Früher als sonst machte sie sich auf den Weg zur Arbeit. Der Morgen dämmerte heran. Vor ihr breitete sich das weite Feld zwischen Aare und Schinznach-Dorf aus, Nebelschwaden tanzten gespenstisch über dem Boden. Im Radio versprachen sie einen milden Frühlingstag, davon war jetzt noch nichts zu bemerken.
Beim Kreisel gewahrte sie fahle Lichter auf der Gegenfahrbahn. Sie drosselte die Geschwindigkeit. Als sie langsam heranfuhr, erkannte sie einen langen Zug Menschen, die barfuss die Strasse entlang marschierten und wankende Laternen bei sich trugen. Keiner wandte sich ihr zu.
Sie schaltete das Radio aus und liess das Fenster herunter. Erst jetzt vernahm sie das Summen der Leute. Wie traurig das klang!
«Du solltest nicht hinhören», sagte die Tante auf dem Beifahrersitz, «es lenkt dich ab.»
«Kennst du die?», fragte sie.
«Sie sind tot. Wenn sie dich ansehen, bist du es auch», bemerkte die Tante.
«Wie meinst du das?»
Statt zu antworten, wies die Tante nach rechts, wo ein Hase übers Feld sprang. Wenn er seine Hinterläufe streckte, mass er mehr als einen Meter. Er schlug ein paar Haken und verschwand urplötzlich, als hätte ihn der Erdboden verschluckt.
«Erinnerst du dich?», fragte die Tante.
«Ich hatte es vergessen …», entgegnete sie fast lautlos und dachte bei sich: Damals war der Hase auch bei der Kreuzung aufgetaucht.
«Es ist auf den Tag zwanzig Jahre her», bemerkte die Tante.
«Dann war ich also acht Jahre alt, als der Raser dich …», sie sprach den Satz nicht zu Ende. «Ich hatte Glück, dass mir nichts passiert ist.»
Die Tante lächelte.
Plötzlich schwoll das Summen der Toten zu einem schwindelerregenden Tosen an. Sie riss das Steuer herum, dann knallte es und die Finsternis schloss sich um sie.
Von weit her hörte sie eine Stimme rufen: «Sind Sie okay?» Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Der Mann, der sich zu ihr herab ins Auto beugte, seufzte erleichtert.
Sie schaute zum Beifahrersitz hinüber. Der war leer. «Wo ist sie?»
«Wer?»
«Meine Tante!»
Der Mann richtete sich auf. «Ausser Ihnen ist niemand da. Und Sie wären auch um ein Haar nicht mehr.» Statt besorgt, klang er nun aufgebracht. «Sie fuhren Mitten auf der Strasse!»
«Ein Feldhase ist mir vors Auto gesprungen», log sie.
Ich liebe eure Geschichten und an einem Freitag den 13. sind sie gleich doppelt gruselig…………..
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Vielen Dank, Ursula. Falls Du mal durch den Kreisel fährst: Augen offen halten.
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Uns gefallen die Geschichten und auch die Illustrationen sehr gut und wir sind immer ganz traurig, dass die ersteren so schnell wieder zu Ende sind. Grüße an einem nebligen Berliner Sonntag, Annett & Conradin
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Nicht traurig sein liebe Annett, lieber Conradin! Der Nebel löst sich auf. Der nächste 13te kommt bestimmt.
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Herzliche Gratulation zu Eurer tollen Idee eines Sagen-Blogs! Ich werde auf jeden Fall in Zukunft gerne wieder „ineluege“!
Gerade „Der Hase im Kreisel“ gefällt mir natürlich besonders, da ich in Schinznach Dorf geboren und aufgewachsen bin…… und ich mir die gespenstische Szene sehr gut vorstellen kann….
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Dann kennst Du die Gegend natürlich besonders gut, Beatrix. Danke für Deine Rückmeldung!
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