«Da ist noch die Geschichte mit dem Hausbock. Und da sie wahr ist, habe ich dreizehn schlaflose Nächte hinter mich gebracht und drei Flaschen Wein gebraucht, bis ich sie nun endlich zu Papier bringen kann. Aber, pssst, er darf es nicht hören. Sonst geht der Horror wieder von vorne los.
Wir haben eine neue Wohnung bezogen. Das Haus allerdings ist alles andere als neu. Erbaut 1904. Gründerzeit. Kaiserzeit. Eine Gründerzeit haben wir nun mit der Digitalisierung der Welt auch wieder. Der Kaiser aber ist tot. Er dankte als Kaiser 1918 ab. Vielleicht fuhr er noch unerkannt als Penner in der von ihm selbst erbauten Berliner U-Bahn, bevor er schließlich auch als Erdenbewohner abdankte. Aber ich schweife ab.
In der Wohnung ist alles neu renoviert, aber alles alt. Frisch gestrichene Wände, frisch renovierte Stuckarbeiten – Engel und Elfen, frisch abgezogene Dielen. Das ganze Programm.
Und dann: Es knabbert in der Türschwelle. Zwischen dem Flur und dem Esszimmer. Wir nennen es auch Erkerzimmer, weil das Esszimmer einen Erker hat – verspielt war sie, die Kaiserzeit. Tatsache bleibt: Es knabbert. Was knabbert? Was ist ES?
Wir googeln und werden schnell fündig: Der Hausbock. Auch Holzbock genannt, weil er im Holz sitzt. Was er braucht, ist ein Spalt von exakt drei bis vier Millimetern, zu wenig wäre zu wenig, zu viel wäre zu viel. Aber der Spalt ist da. Und drum ist auch der Hausbock da, oder das, was wir für einen Hausbock halten. Wir googeln. Er knabbert. Die Larve des Hausbocks kann bis zu vier Zentimeter gross werden. Schlüpft er, legt er seine Eier in alle ihm verfügbaren Holzspalten. Aus dem Hausbock werden Hausböcke. Aus dem Geknabber wird GEKNABBER, aus dem neuen Parkett ein Haufen Sägemehl. Aus dem neuen Zuhause ein Horror.
Den Hausbock loswerden. Töten.
Der Schreiner empfiehlt uns, die Position des Geknabbers in der Schwelle so präzise wie möglich zu lokalisieren. Ein kleines Löchlein zu bohren und mit einer Spritze Benzin einzuspritzen. Wir sehen davon ab. Die neuen Dielen anbohren? Benzinflecken riskieren?
Der Hausbock knabbert. Er knabbert am Tag. Er knabbert in der Nacht. Er knabbert sich in unsere Träume. Und je länger er knabbert, verursacht er uns Albträume.
Den Hausbock töten: Der Hausbock besteht inhaltlich aus Überflüssigkeit und Gemeinheit, physisch aus Eiweiss. Eiweiss gerinnt, wenn die Temperatur nur hoch genug ist. Die Idee ist geboren: Der Hausbock wird sterben. Indem er gekocht wird. Wie ein Frühstücksei. Luftgetrocknet, wie ein Stück Bündnerfleisch.
Der Föhn föhnt. 15 Minuten auf höchster Stufe. Ruhe im Karton respektive in der Türschwelle. Für eine Nacht. Oder sagen wir: für eine halbe Nacht. Der Hausbock knabbert. Das Knabbern erscheint uns jetzt verzweifelter. Aggressiver. Der Hausbock wurde angegriffen. Wir sind uns sicher, er sinnt auf Rache. Der Hausbock muss sterben.
Zweiter Versuch: Föhn, höchste Stufe. Diesmal eine Stunde und fünfzehn Minuten. Der Föhn überhitzt. Zweimal. Aber da muss er durch. Es geht hier um Leben und Tod. Um unser Leben – und um den Tod des Holzbocks.
Er ist tot. Ganz offensichtlich. Seit drei Wochen kein Geräusch mehr aus der Türschwelle. Aber wir wissen, dass er noch da ist. Dass er immer da sein wird. Gekocht wie ein Frühstücksei. Getrocknet wie eine Dattel. Und als ob diese Vorstellung nicht schon beunruhigend genug wäre, beginnt das Holz rund um die Unglücksstelle an zu weinen. Tränen aus Harz dringen aus allen Poren des umliegenden Holzes und erstarren zu einem unübersehbaren Manifest der Unrechts, das dem Holzbock geschehen ist.
Das nächste Knabbern wird kein leises mehr sein.»
Conradin Mach-Sonnenberg, 19. April 2016