Sagenstark. Das Gespenst von Mitlödi

Das Gespenst von Mitlödi

Das Ferienhaus meiner Gotte steht in Mitlödi unter der senkrechten Wand des Vorderglärnisch. Meine Gotte meinte, als ich ein Kind war, unter dieser Felswand fühle sie sich sicher. Ich wunderte mich, dass sie sich fürchten konnte, sie war nämlich eine energische Frau.

Ihr Haus ist ein kleines beiges Würfelchen mit einer nett dreinblickenden Augenzahl, jedoch ein wenig einsam inmitten des grünen Hanges. Im Tiefparterre wohnten die Knobels, die ich ins Herz geschlossen hatte, weil sie so schön glarnerten und weil die Frau Knobel so eine helle, lachende Erscheinung war. Merkwürdig fand ich, dass die Knobels im Keller lebten und trotzdem so glücklich sein konnten.

Die Ferienwohnung im ersten Stock betrat man über eine steile Steintreppe. Vom langen Korridor mit Novilonboden, auf dem die Füsse und Finken immer tappten, bogen vier Türen ab: zum Elternschlafzimmer, zum Bad, zur Stube und zur Küche, von wo wir hinunter ins Tal auf die Kirche und die Fabrik an der Linth blickten. Mehr als die Aussicht faszinierten mich die Teetassen im Geschirrschrank. Sie waren mit handbemalten Blumen verziert. Am liebsten mochte ich die Huflattich-Tasse. Huflattich war die einzige Blume von all denen am Wanderwegrand, deren Namen ich mir merken konnte. Meine Gotte hatte sie gerühmt, weil man sie als Medizin brauchen konnte. Ich habe vergessen, wofür.

Unter dem Dach des Hauses gab es weitere drei Zimmer mit den Betten für die Kinder. Und dann gab es noch ein kleines unscheinbares Türchen zu einem Grümpelkämmerchen, das immer abgeschlossen war.

Einmal blieb ich mit meiner Mutter allein in dem Haus. Die anderen waren auf einer mehrtägigen Wanderung zum Clariden unterwegs. Meine Mutter nahm mich zu sich ins Elternschlafzimmer und schloss nicht nur die Haustür, sondern auch die Schlafzimmertür ab. Ich hatte keinerlei Angst und genoss es, meine Mutter für mich alleine zu haben. Sie zog an einem langen Bändel, der von der Decke zum Bett herunter hing, und löschte das Licht. Ich wünschte ihr in die Dunkelheit hinein, die viel satter war als diejenige zuhause, eine gute Nacht.

In der frühen Helle des Morgens erwachte ich aus einem leichten Schlaf mit dem Gefühl, beobachtet zu werden. Ich schlug die Augen auf. Jemand beugte sich zu mir herab, von dem ich nicht sagen konnte, ob es eine Frau oder ein Mann war. Es war eine Menschengestalt oder vielmehr der Schatten einer solchen. Ich kann auch nicht sagen, was für Kleider die Gestalt trug. Sie war grau, einfach grau. Die Gestalt musterte mich. Sie wirkte neugierig, als sei sie sich noch nicht schlüssig, was für eine Art Mensch ich sei. Ich dachte daran, meine Mutter zu wecken, war aber so gebannt, dass ich mich weder rühren noch einen Laut von mir geben konnte. Als hätte die Gestalt meine Absicht erraten, richtete sie sich auf. In ihrem Gesichtsausdruck lag ein Anflug von Enttäuschung. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen, um mir zu bedeuten, dass ich sie nicht verraten sollte. Doch das war überflüssig. Sie ging ums Fussende des Bettes bis zur Tür und, ohne diese zu öffnen, durch das Türblatt hindurch. Als sie verschwunden war, kam Leben in mich, mein Herz schlug bis zum Hals, ich rief meine Mutter, die nur widerwillig erwachte, und in aufgewühlten Worten versuchte ich ihr deutlich zu machen, was ich gesehen hatte. Meine Mutter prüfte die Tür, sie war verschlossen. Sie blickte in den Korridor hinaus. Ich folgte ihr, doch nirgends war auch nur ein Anzeichen eines Gespenstes zu erhaschen. Schliesslich legten wir uns wieder hin. Meine Mutter bat mich, weiterzuschlafen, es sei noch etwas früh und ich hätte bestimmt nur geträumt. Ich wusste aber, dass ich die ganze Zeit hellwach gewesen war. Ich sprach nie mehr von dem Gespenst.

Einige Jahre später richtete meine Gotte das Grümpelkämmerchen unterm Dach für mich her: Über dem Bett lag ein roter Überwurf und ein Teddybär sass zwischen den Zierkissen. Ich sollte das Zimmer als meines betrachten, wenn unsere Familie in die Ferien kam. Doch ich weigerte mich, ohne meine Geschwister dort zu schlafen, und für alle zusammen war es zu klein. Meine Gotte war enttäuscht.

Vor wenigen Monaten ist meine Gotte gestorben. Ich bin noch einmal durch die Räume gegangen auf der Suche. Aber es war nicht da. Und wenn doch, hat es sich mir nicht gezeigt.

Ich überlege mir, was damals geschehen wäre, hätte ich keine Angst bekommen. – Das Gespenst wollte mich nicht erschrecken. Es wollte mir etwas mitteilen.

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