sagenstark linner linde lindwurm

Der Lindwurm

Sie spazierte zur Linner Linde und schaute übers Land. Auf der gegenüberliegenden Hügelkette ragte die Habsburg aus dem rotgoldenen Herbstwald. Die Abendsonne liess die Farben geradezu explodieren. Die Ruine stand wie erloschen in diesem Feuer.

Alles war übers Jahr gekeimt und gereift und schien nun in Flammen zu stehen. Alles ausser der Burg und ihr selbst. Der Schatten der Linde legte sich auf sie. Sie setzte sich auf eine Bank. Bald würde die Sonne untergehen und unten im Tal die Lichter angehen. Jetzt schon sah man vereinzelt, wie im Wald auf der anderen Talseite die Lichter eines Autos nach dem Weg spähten.

Es war ein guter Sommer gewesen. Bohnen und Fenchel waren in ihrem Garten gediehen, Storchenschnäbel, Stiefmütterchen, Ringel- und Sonnenblumen hatten geblüht. Vor einer Woche waren die Astern aufgegangen.

Sie hatte viel Zeit gehabt, um das Blühen und Vergehen zu beobachten. Manchmal war sie wütend geworden, weil sie selbst nicht Teil dieses Entstehens war. Ihr Mann hatte sie ausgelacht, wenn sie mit traurigem Gesicht Samen von den verblühten Pflanzen ablas. «Freu dich doch ein wenig», hatte er sie gemahnt. Sie hatte gelächelt, während das Gefühl an ihr nagte, dass der Kreislauf der Natur sie ausgeschlossen hatte.

Sie wurde am Rücken berührt. Erschrocken wandte sie sich um und sah ein dunkles Gewusel im aufgerissenen Lindenstamm. Angestrengt starrte sie in die Eingeweide des Baumes, um herauszufinden, was sich dort bewegte. Doch bevor sie etwas erkennen konnte, lenkte ein Rascheln ihre Aufmerksamkeit aufs Geäst. Sie vernahm ein feines Stimmchen, das ihr zuraunte: «Schau her, ich bin hier! Befreie mich, dann gehöre ich dir.» Sie kniff die Augen zusammen, etwas Helles schimmerte zwischen den Blättern hindurch. Ein Vogel? Nein, ein zartes Babygesichtchen! Dort oben im Baum lag ein Findelkind!

Sein Körperchen steckte in einer Art Kokon. Jemand musste es in Stoffwindeln gewickelt haben. Sie streckte die Hände aus, doch das Kind war unerreichbar. Wieder hörte sie das feine Stimmchen: «Nimm mich herunter, dann gehöre ich dir.» Sie begann den dicken Stamm hoch zu kletterten, arbeitete sich langsam und mit ruhigen Bewegungen zu dem Kind vor. Sie wollte es auf keinen Fall erschrecken. Manchmal kam ihr ein Drahtseil, das die Äste stabilisierte, zu Hilfe.

Endlich erreichte sie die Astgabel, auf dem das Baby lag. Es hatte die Augen geschlossen und der Mund machte kleine Saugbewegungen, als hätte es Durst. Das Tuch, in das es kunstvoll eingewickelt war, schimmerte weiss wie Seide. Sie hörte sich laut sagen: «Du brauchst keine Angst zu haben. Ich befreie dich, mein Kleines.

Als sie den Stoff berührte, vernahm sie einen wohligen Seufzer, und ein Zittern ging durch das Körperchen, als wolle es sich strecken und sich aus seinem engen Gefängnis befreien. Der Stoff war feucht und klebrig. Und als sie das Kind in ihren Arm nahm, da schwebten ein paar Fäden davon. Es musste schon recht ausgekühlt sein, denn alle Wärme schwand aus ihrem Körper, während sie es im Arm wiegte.

Als sie mit dem Kind vom Baum herunterkletterte, lösten sich immer mehr Fäden aus der Windel. Das Körperchen wurde immer kälter. Kaum hatte sie Boden unter den Füssen, lief sie über die Wiese. Die Fäden schwebten nun überall in der Luft, verfingen sich in ihren Haaren und klebten in ihrem Gesicht. Doch sie achtete nicht darauf. Sie war besessen von dem Gedanken, das Kind daheim warm zu reiben.

Als sie den Garten erreichte, war der Stoff völlig zerfranst. Die nackte Haut des Kindes leuchtete. Es hatte das Gesichtchen in ihrer Armbeuge verborgen. Sie drückte den Ellbogen auf die Klingel und läutete Sturm. Ihr Mann öffnete. Er wich vor ihr zurück. Sie konnte nicht sprechen, der Mund war verklebt von den Fäden. Sie deutete auf das Kind.

Da lag ein riesiger Wurm. Er wand und drehte sich, rollte sich vom Arm, aus dem alle Kraft gewichen war, und kroch schnell durch den Garten davon.

2 Gedanken zu “Der Lindwurm

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