Sagenstark | Topograph von Gansingen

Der Topograph von Gansingen

Am Silvesternachmittag 1899 wanderten Balzli und sein Vater vom Dorf Gansingen auf den Cheisacher. Der Weg lag gut gepolstert unter dem Laub des vergangenen Herbstes. Auf der Anhöhe erhob sich eine pyramidenförmige Holzkonstruktion. Balzli hatte diese schon öfter gesehen und wollte vom Vater wissen, was es damit auf sich habe. Der Vater wies auf einen Stein, der unter der Pyramide in den Boden gesetzt worden war. «Siehst du die Kerbung? Das, mein Junge, ist der Nabel, von wo aus jeder Millimeter unserer Gegend vermessen werden kann.» Der Vater erzählte von General Dufour. «Dank ihm haben wir Schweizer eine so genaue Landeskarte, wie es sie sonst nirgends auf der Welt gibt.» Und er fügte wehmütig hinzu: «Um so etwas Grossartiges zu schaffen, Balzli, ist unsereins zu dumm.» Balzli dachte an die Karte zuhause, die – wie die Bibel – nur der Vater aufschlagen durfte. Ein grosses Verlangen ergriff ihn, Landesvermesser zu werden. Wenn er nur schon alt genug  wäre und der Vater es erlauben würde!

Im Jahr 1913 schritt Balz im schwarzen Wams und mit Hut auf dem Kopf kräftig aus. Er war über die Jurahöhen unterwegs zum Cheisacher. Der Rucksack, in dem er Bussole, Stativ und Messtisch verstaut hatte, kam ihm an diesem Tag leichter vor als sonst. Er freute sich, nach der Arbeit seine Eltern in Gansingen zu überraschen. Was der Vater wohl sagen würde, wenn er die neue Karte in der Hand hielt? Balz lächelte. Auf Vaters alter Karte war der Cheisacher um sechs Meter zu hoch eingetragen.

Um die Mittagszeit erreichte er den Triangulationspunkt und begann sogleich den Messtisch aufzubauen. Doch dann legte sich eine bleierne Müdigkeit auf seine Glieder. Er setzte sich, um sein Wurstbrot zu essen, und ehe er sich versah, war er eingenickt.

Als er erwachte, umgab ihn die Dämmerung. Fröstelnd tastete er nach dem Rucksack. Dabei entdeckte er hinter dem Vermessungsstein eine Grube. Er beugte sich über den Rand, aber er konnte nichts erkennen. Er starrte hinab, bis Kreismuster sich vor seinen Augen drehten. Plötzlich schauderte es ihn. Da hockte einer in der Grube und glotzte ihn an.

Balz war ein sachlicher Denker und ein vernünftiger obendrein. Er glaubte nicht an Geister. Doch nun beschlich ihn der fruchtbare Gedanke, dass derjenige dort unten einer war. Und zwar keiner, der ihn in freundlicher Absicht besuchte. Er rief hinab: «Was willst du?» Der Geist verzog seinen Mund, worin kein Stumpf mehr stand, und krächzte: «Du verstehst mehr vom Vermessen als dein Vater. Und du besitzt mehr Karten als er. Glaubst du, er bewundert dich dafür?»

Balz sank in sich zusammen. Das Ungeheuer lachte, dass der ganze Wald, ja das Himmelsgewölbe über ihnen dröhnte. Balz hielt sich die Ohren zu. Vergeblich, das Gelächter war nicht auszusperren. Er packte, was ihm zwischen die Finger geriet, Gras, Erde, Blätter, ja sogar den Messtisch, und schleuderte alles in die Grube hinab. Gleichzeitig jodelte er hoch und laut, um das Hohngelächter zu übertönen. Als er Atem holen musste, grollte das Ungeheuer: «Hast du kleiner Taugenichts denn keine Ehrfurcht?»

Entsetzt zerrte Balz am Vermessungsstein. Mit aller Kraft löste er ihn aus dem Fundament und schmetterte ihn in die Grube. Es wurde totenstill. Zitternd und weinend raffte Balz seinen Rucksack zusammen.

*

Ein halbes Jahrhundert verging. Zwei Weltkriege tobten und Friede kehrte ein, wobei das Bangen und die knappen Lebensmittelmarken der stolzen Ahnung wichen, dass man den Feind besiegt hatte, auch wenn er gar nicht über die Grenzen gekommen war.

An einem klaren Sommernachmittag sass ein Greis auf der Bank vor seinem Haus. Er war in ein leises Gespräch mit seiner verstorbenen Frau versunken. Er erzählte ihr von den Hühnern, die fast keine Eier mehr legten, und von den Kirschbäumen, die heuer viel zu früh geblüht hatten. Da tauchte ein junger Wandersmann auf und fragte: «Steht der Vermessungsstein auf dem Cheisacher noch?» Der Greis hielt in seinem Gespräch inne. Er musterte den Wanderer und nickte. Dieser ging grusslos weiter.

Der Greis grübelte, an wen ihn der Wanderer erinnerte. Auf einmal wusste er es: an seinen verschollenen Schulfreund Balzli, als hätte der kein zusätzliches Jährchen auf dem Buckel. Der Greis grinste – was einem die Erinnerung doch alles vorgaukelt!

Schnell zogen Wolken über dem Cheisacher auf und ein fürchterliches Gewitter entlud sich. Blitze schossen im Sekundentakt aus dem Himmel und der Donner grollte. Der Hagel machte die ohnehin schon schlechte Obsternte zunichte, und der Wind heulte die ganze Nacht durch die Bäume.

Am nächsten Morgen, als die Glocken  zum Gottesdienst läuteten und der Greis Möcken aus seinem Milchkaffee löffelte, klopfte es. Der Ammann bückte sich unter dem Türbalken hindurch in die Küche. «Guten Morgen, Jost. Wir haben heute Morgen einen alten Mann oben auf dem Cheisacher gefunden. Vom Blitz getroffen. Neben ihm lag ein Rucksack mit Vermessungsgeräten. – Man hat mir gesagt, du hättest gestern den Balzli gesehen.»

 

Siehe auch:
Cheis- oder Chreisacher? Kartographische Erläuterungen zur Sage.

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