Der Rheinuferweg war mir verboten. Zu gefährlich. Mein Grossvater mied ihn. Es sei dort vor langer Zeit etwas passiert. Man könne deshalb in den Rhein gerissen werden, sagte er.
Heute will ich das sehen. Ich nehme den steilen Abstieg, halte mich am Holzgeländer fest. Der Rheinuferweg duckt sich gut verborgen unter Bäume und hinter Sträucher, drei Meter über dem Wasser. Im Morgengrauen steht er fast völlig im Dunkeln. Es riecht feucht. Auf der deutschen Seite an der Böschung stehen hohe Bäume, von einigen sind nur kahle Äste geblieben. Ich gehe vorsichtig nach links.
Plötzlich höre ich die Stimme meines Grossvaters wieder, stossweise kamen die Sätze, fast flüsternd: «Man darf auf keinen Fall hinschauen, wenn der Mantelmann erscheint. Er holt sich neue Opfer. Er breitet die Arme aus wie ein riesiger Vogel und zieht die Unglücklichen ins Wasser.»
Ich halte den Blick gesenkt auf den Kies. Unter der steilen Böschung drängen die Wassermassen vorbei. Mit jedem Schritt wird meine Atmung schneller. «Hast du ihn gesehen, Grossvater?» hatte ich ihn oft gefragt, aber er gab mir nie eine Antwort. Ein einziges Mal, als ich krank war und von einem Albtraum erzählte, sprach er davon, was er gesehen hatte:
«Es war an einem Abend, 1943, schon fast dunkel, ich komme nach Hause, nehme diesen Weg, als drüben ein Flüchtling zwischen den Bäumen auftaucht. Erst zögert er einen Moment, schaut hinter sich, dann blickt er über das Wasser zu mir, über den breiten Fluss. Er blickt ernst. Ich bleibe stehen, kann nichts machen, nur zuschauen. Er hechtet ins Wasser, er ist ein guter Schwimmer, kommt weit, fast bis zur Mitte, und sein Kopf zieht eine dünne Bahn. Dann kommt der SS-Mann mit dem Mantel angerannt, er reisst sein Gewehr hoch, schiesst in den Fluss, trifft nicht, der Flüchtling schwimmt weiter, wird abgetrieben, aber dann knallt es erneut, und der Kopf verschwindet.»
«Und dann?» fragte ich.
Das Geräusch einer Welle erschreckt mich. Ich muss weg! Schnell weg! Ich kehre um, haste zum Aufstieg zurück, stolpere über eine Grasnarbe, falle hin. Auf der anderen Seite, über den Felsblöcken am Ufer, steht ein dunkler Schatten. Es ist ein Mann mit ungeheuer langen Armen. Er trägt einen Mantel und darunter eine Uniform. Ich sehe ihn zum ersten Mal, aber ich weiss, dass er es ist. Er wartet.
Ich rege mich nicht. Minutenlang. Mein Herz klopft.
Dann rapple ich mich auf, stelle mich fest auf beide Beine, stemme die Hände in die Hüften und schreie: «Du verdammter Idiot!» Ich schreie, so laut ich kann, wiederhole es. Es ist ein sehr gutes Gefühl. Ich muss fast lachen, so leicht fühlt es sich plötzlich an. Der Schatten ist verschwunden. Ich kann gehen.