Im Juli 2014 fuhr ich mit dem Rennrad von Linthal in Richtung Klausenpass. Auf dem Urnerboden stand der Nebel stockdick. Jemand schimpfte lauthals: «Sie Halunke! Sie haben meine Kühe und meine Tochter auf dem Gewissen.» Vor mir tauchten zwei Männer am Strassenrand auf. Der eine streckte eine widerlich blaue Zunge aus dem Mund. Um seinen Hals hing ein abgeschnittener Strick, als habe der Mann sich aufhängen wollen. Ich stieg vom Rennrad.
Der zweite machte eine beschwichtigende Handbewegung. «Es waren keine einfachen Zeiten, für niemanden. – Und ich habe die Konsequenzen gezogen. Ich bin im selben Jahr als Bundesrat zurückgetreten.»
Der mit dem Strick spuckte Tabak auf den Boden und murmelte: «Ich bin nicht dumm, auch wenn ich nicht zu jeder Grausamkeit fähig bin wie euereins. Ihr seid ein gewissenloser Mensch, Herr Minger.»
Nun begriff ich: Die beiden drehten einen Film über Bundesrat Rudolf Minger, vielleicht eine Fortsetzung der Staffel «Schweizer, die unsere Geschichte prägten». – Ich blickte mich nach der SRF-Filmcrew um. Im Nebel war kein einziger Kameramann zu sehen. «Entschuldigen Sie», fragte ich, «drehen Sie einen Film?» Die beiden starrten mich entgeistert an.
Der mit dem Strick fasste sich zuerst und entgegnete: «Hauen Sie ab, wenn Sie nicht mit tränenden Augen und einer triefenden Schnorre verrecken wollen. Die Soldaten hantieren heute wieder mit Nebelpatronen. Der Boden, das Gras und die Luft: Alles ist vergiftet!» Er zeigte auf das Vieh auf der Weide. Was ich für äsende Kühe gehalten hatte, entpuppte sich als totes Vieh mit struppigem Fell. Die Kühe lagen mit Blasen und Geschwüren ums Maul am Boden – ein grauenhafter Anblick.
«Soll ich die Polizei alarmieren?», rief ich.
Nun antwortete der, der sich als Minger ausgab: «Tun Sie das, tun Sie das, holen Sie Hilfe! Der Verrückte da hält mich schon viel zu lange fest.»
Der mit dem Strick packte Minger am Schopf und zwang ihn in die Knie. «Ihnen soll es nicht besser gehen als meinem Vieh. Dem hat der Inhalt der Nebelpatronen gar nicht gemundet. Aber das ist dem Herrn Bundesrat Minger egal. Drum nehmen Sie jetzt einen kräftigen Biss und spüren Sie selbst.» Er drückte Mingers Kopf ins Gras und rief verzweifelt: «Sie haben mir alles genommen!» Tränen liefen ihm über die Wangen. «In wenigen Wochen mein ganzer Bestand tot und keine Milch, keine Butter, kein Geld mehr. Der Kantonstierarzt sagte, ich dürfe jetzt nicht verzweifeln. Aber wie soll man da nicht verzweifeln?» Der Bauer schlug Mingers Kopf wütend auf den Boden.
«He, Sie», rief ich, «Sie bringen ihn ja um.» Ich zückte mein Handy, um die Polizei zu rufen, doch das Netz war unterbrochen.
Der Bauer wandte sich an mich: ««Sogar mein Marili hat er umgebracht. Das arme Kind bekam Pfnüsel vom Nebel und meine Frau versuchte es mit Milch aufzupäppeln. Der Pfnüsel ging nicht mehr weg und dazu kam noch der Blinddarm.»
Minger spuckte und presste dumpf hervor: «Ich entschuldige mich im Namen des Bundesrates für das Unglück Ihrer Familie. Der Veterinär hatte Recht, Sie hätten sich nicht erhängen sollen. Die Armee hat Ihrer Frau und allen betroffenen Urner Bauern die Kühe bezahlt. – Bitte lassen Sie mich los. Das hat doch keinen Sinn.»
Der Bauer, der den Griff gelockert hatte, stiess Minger erneut auf den Boden und rief: «Keinen Sinn?! Dann erkläre ich dem Herrn Bundesrat Minger, dass es auch keinen Sinn machen muss. Oder will der Herr Bundesrat behaupten, dass sein Chemiewaffenprogramm Sinn machte?»
Minger stöhnte. «Wir hatten Hinweise, dass die Wehrmacht einen Giftgaskrieg führen würde.»
«Und dann habt ihr euer Gift an uns ausgetestet?!» Der Bauer zog den Minger in einem Ruck hoch, als wäre der eine Stoffpuppe, und würgte ihn.
Ich schrie und versuchte dazwischenzufahren, doch augenblicklich löste ein Windstoss die Wolken auf und die beiden Streithähne waren vom Erdboden verschwunden. Sonnenschein liess die Weiden in saftigem Grün erstrahlen. Gesunde Kühe grasten darin.
Nachdem ich mich einigermassen gefasst hatte, fuhr ich zum nächsten Hof und klingelte. Hundegebell begrüsste mich aus dem Hausinnern, eine ältere Frau öffnete und hielt den Hund an kurzer Leine. Ich erzählte ihr von dem Vorfall. Die Frau lockerte die Leine und der Hund knurrte bedrohlich. Sie sagte: «Stecken Sie die verrückte Geschichte nur nicht der Presse, sonst macht die einen riesen Radau und am Ende können wir unseren Käse nicht mehr verkaufen. Das mit den Nebelkühen ist siebzig Jahre her.» Sie schlug die Tür zu.
Erschöpft fuhr ich zurück nach Linthal, wo ich mich ins Hotel Bahnhof setzte. Die Wirtin fragte: «Essen Sie zu Mittag? Wir haben frischen Rindsbraten vom Urnerboden.»
Siehe auch:
Urner Nebelkühe: Brugger Frischfleisch. Geschichtlicher Hintergrund zur Sage