Sagenstark. Neue Sagen aus der Schweiz. Schräubchen

Schabernack

Kaum bin ich in der neuen Wohnung in Lausanne eingezogen, mache ich im Treppenhaus Bekanntschaft mit der Nachbarin vom oberen Stock, Frau Ducret. Ob ich kurz vorbeikommen könne, sie brauche Hilfe wegen einer Lampe.

In ihrer Küche serviert sie erstmal ein Gläschen Grappa.
Wissen Sie, ich habe einen Hausgeist. Ab und zu lässt er sich hören, wenn er im Küchenregal sitzt. Manchmal pfeift er leise. Oder knackt mit den Fingern.
Ich sage, nein, das sind Temperaturveränderungen im Material. Ganz klar. Das kennt man ja von den Holztäfelungen oder dem Dachgebälk in Ferienhäusern.
Sie winkt mich zu ihrer Küchenkombination. Sauber glänzende Chromstahlabdeckung, darüber eine Reihe von Hochschränken und ein Küchenregal für Kochbücher. Drei Unterlichter werfen grellweisses Halogenlicht auf die Abdeckung. Eines davon erlischt für einige Sekunden.
Sehen Sie!, sagt Frau Ducret.
Da müsste man halt mal… murmle ich und lege den Kopf schief unter die Schränke. Wackelkontakt, kein Problem. Haben Sie einen Schraubenzieher?

Ich entferne das Deckelchen des Unterlichtes und wiege es wie einen Kristall in der Handfläche. Daneben lege ich die Birne und zwei winzige Schräubchen.
Ich bestelle Ihnen eine neue Leuchte, Frau Ducret. Doch, ich mach‘ das.
Mir wäre lieber, Sie lassen alles hier, sagt sie. Nicht, dass ich ihn noch ärgere.
Ich blicke die Nachbarin an.
Wissen Sie, er legt mir die Leuchte oft auf die Abdeckung. Schabernack, nenne ich das, ein kleines Spiel. Ich schraube sie dann einfach wieder fest.

Ich verabschiede mich und verlasse die Wohnung. Zuhause kommt die defekte Leuchte zur Werkzeugkiste in den Putzschrank. Dann hefte ich ein Zettelchen an die Wohnungstür: «Ducret, Licht bestellen».
In der Nacht erwache ich von Geräuschen aus dem Wohnzimmer. Zuerst ist es nur ein Schlurfen. Kurz darauf klopft es deutlich. Es poltert und kracht, ein wütendes Grollen braust durch die Wohnung, und dumpfe Schläge lassen die Wände erzittern. Ich sitze in Todesangst auf dem Bett, wage mich nicht zu rühren. Erst Stunden später, als es längst hell geworden ist, öffne ich vorsichtig die Schlafzimmertür.
Mich fröstelt.
Die Fenster sind eingeschlagen, der Teppich ist zerrupft und mit Scherben übersät. Ich sehe verkratzte Wände, eine verbogene Stehlampe, mein aufgeschlitztes Sofa liegt umgeworfen quer im Raum, seine Füllung ist wie Hühnerfedern in der ganzen Wohnung verteilt. Die Werkzeugkiste ist flachgedrückt um einen Türrahmen gebogen.

In diesem Moment läutet es.
Wer ist da?, frage ich vorsichtig.
Ich öffne die Tür. Frau Ducret sieht mein Gesicht, ihr entfährt ein Oi!
Sie nimmt die Verwüstung hinter mir wahr, schüttelt fassungslos den Kopf. Dann öffnet sie die Hand.
Sehen Sie sich das an: Das lag heute Morgen bei mir auf der Abdeckung.
Die Leuchte!
Das Deckelchen glitzert, die Schräubchen und die Birne glänzen silbern.

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Ähnliche Sage:
«Der Ball des Toten»

Sagenstark. Besuch von der Wandfrau

Besuch von der Wandfrau

Nach der Beerdigung von Renatas Vater blieben wir etwas länger im «Wyssen Rössli» von Schwyz sitzen. Die übrige Trauergesellschaft war aufgebrochen. Manchmal zitterten Renatas Lippen, wenn sie von ihrem Vater erzählte. Sie hatte ihn gern gehabt.
Ihr Vater hatte in einem Haus oberhalb von Rickenbach unter der Wand des Gross Mythen gewohnt. Er hatte beträchtliches Werkzeug und Baumaterial in seiner Werkstatt und im Anbau angesammelt, genug, um ein ganzes Dorf auszurüsten. Aber nie hatte er etwas davon einem Nachbarn ausgeliehen. Er war zu sehr Einzelgänger.

Abends besuchte ihn manchmal die Wandfrau, eine grosse, hagere Frau, von der es hiess, sie wache darüber, dass der Gross Mythen weder Steine noch Felsen abstürzen lasse. Er machte ihr seine Kartoffeln mit Spiegeleiern, und sie sass am Küchentisch und schaute ihm dabei zu. Nach dem Essen tranken sie Tee und redeten bis in die Nacht hinein.
Immer bevor es Mitternacht schlug, erhob sie sich und sagte:

«Für mich ist es Zeit. Wann ist es Zeit für dich?»

Er schüttelte jedes Mal den Kopf und begleitete sie bis zur Tür. Dann stieg die Wandfrau die steile Wiese zum Waldrand hinauf und verschwand.

Anfang November stürzte der Vater unglücklich. Man brachte ihn ins Spital, für eine kleine Operation nur, aber danach liess ihn eine Infektion rasch schwächer werden. Renata war besorgt. Von Mal zu Mal schien seine Haut dünner.
An einem besonders nebligen Abend sass sie wieder neben seinem Bett, und sie sprach mit ihm über Familienfeiern, über sein Haus und den Garten, über die gemeinsamen Bergwanderungen, aber bald verlor sie den Faden und schwieg. Der Vater hatte die Augen geschlossen und döste.
Plötzlich ging die Türe auf. Eine grosse Frau kam herein. Ihr Haar war streng nach hinten gekämmt. Ohne von Renata Notiz zu nehmen, trat sie an das Bett, neigte sich herunter und betrachtete das Gesicht des Vaters.

«Für dich ist es jetzt Zeit», flüsterte sie.

Danach wandte sie sich um und ging zielgerichtet aus dem Krankenzimmer, dessen Tür sich mit einem leichten Seufzer hinter ihr schloss. Als Renata sich verwundert nach ihrem Vater umsah, war er gestorben.

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Siehe auch: «Die Biberfrau»

Sagenstark. Das Gespenst von Mitlödi

Das Gespenst von Mitlödi

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Der Ball des Toten

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