Sagenstark. Eine Sommernacht in Arbon

Warum fliegen sie nicht?

In unserer Sage «Eine Sommernacht in Arbon» fliegt ein Musiker zum Mond. Man könnte denken, dass das Motiv des Fliegens in Sagen häufig vorkommt, ist Fliegen doch seit jeher ein Wunschtraum des Menschen.

Bei unseren bisherigen Recherchen zu Schweizer Sagen fanden wir nur wenige Figuren, die fliegen. Warum?

Eine mögliche Erklärung liefert Udo Reinhardt[1]. Er schreibt, in der christlichen Kultur seien Himmelfahrten beschränkt entweder auf die himmlischen Engel oder auf die «gefallenen Engel», die Dämonen des Höllenbereichs. Das Fliegen wäre demnach ein Tabu für gottesfürchtige Menschen.

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Zudem sind Sagen gemäss Reinhardt an Ort und Zeit gebunden. Sie enthalten zwar viel Phantastisches, aber sie setzen sich nicht wie Märchen über alle Schranken der Wirklichkeit hinweg.

Ingrid Tomkowiak, Professorin für Populäre Literaturen und Medien, Kinder- und Jugendmedien am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich (ISEK), bestätigt dies. Selbst Rudolf Schendas Buch[2] zur Geschichte der Schweizer Sagen, das ein umfangreiches Motivregister enthalte, führe kein Stichwort «Fliegen» o.ä. auf.

Die schönsten Flüge

Einige Sagen haben wir dennoch gefunden:
wirbel300x188In «Der wilde Jäger ob dem Neuenburgersee» (Sergius Golowin[3]) erscheint einem Mann und seinem treuen Hund beim Creux du Van ein seltsamer Fremder, gleichzeitig wird er von einem Wirbelsturm ergriffen. Dabei verliert er die Besinnung und kommt erst im Tal unten wieder zu sich. Der Fremde braust als wilder Jäger jeweils zur Weihnachtszeit «mit Rufen und Johlen» über das Val de Travers. Deutlich zu hören ist auch der treue Hund des Mannes.

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kutsche300x200Aus der Ruine Reifenstein im Baselland steigt ab und zu ein feurig funkelnder sechsspänniger Wagen, in dem ein edles Fräulein und ein Ritter sitzen. Die Himmelfahrt des edelsteinbesetzten Wagens kündet in «Sternenvolk im Baselland» (Sergius Golowin) baldigen Regen an, ist also eine positive Erscheinung. In « Die Luftfahrt der Reifensteiner» (Arnold Büchli [4]) hingegen sind die Rittersleute auf ewig Verdammte, für die jeder Flug eine Qual ist.

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note300x200Arnold Büchli erzählt zudem von zwei fröhlichen Musikflügen. In «Die Schildwache in Paris» steht vor dem Königsschloss in Paris ein Söldner aus Obersaxen, der an Heimweh leidet. Aber dann hat er Glück. Ein grosses Schwein fliegt ihn zu einem Fest in sein Heimatdorf, wo er sich amüsieren kann. Die «brave Sau» bringt ihn rechtzeitig zur Wachablösung wieder auf seinen Posten zurück.

Im zweiten Flug, in «Der Sankt Galler Spielmann», ist es ein Pferd, das einen Flötenspieler von Sankt Gallen nach Baden transportiert. Während des Fluges hat dieser jedoch ein absolutes Laut-Verbot. Am Ziel angelangt spielt er vor den Gesandten der Eidgenossen, wo er sich «ein rechtes Trinkgeld verdient.» Übrigens: Flug und Pferd wurden vom berühmten Arzt Paracelsus organisiert.

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schwalbe300x200Eine sehr schöne Flugreise erzählt Alfred Cérésole [5]: Die Fee Nérine ist in Michel, einen Alphirten, verliebt und versucht ihn für sich zu gewinnen. Dazu verwandelt sie eine Alpenrose in eine Luftkutsche und spannt davor mit Goldfäden Hunderte von Schwalben. Dann überredet sie den hübschen Jüngling zu einem Flug, dieser will jedoch – trotz der herrlichen Luftfahrt und obschon Nérine «in ihrem weissen Schneekleid» neben ihm steht – lieber wieder in sein Heimatdorf und zu seiner Braut Salomé zurückkehren.

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glocke300x200Schnell gehen muss es in «Die St.-Jodern-Glocke[6]». Der Walliser Schutzpatron, Bischof Theodor aus Sitten, muss in eiliger Mission zum Papst nach Rom fliegen. Dies tut er ausgerechnet auf dem Rücken des Teufels. Nach getaner Arbeit wird er mitsamt einer schweren, vom Papst geschenkten Glocke zurückgeflogen. Beim «Landeanflug» in Sitten schlägt er dem Teufel ein Schnippchen.

 

  1. August 2016

 

[1] Reinhardt, Udo. Mythen – Sagen – Märchen. Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach Verlag KG, 2012.

[2] Schenda, Rudolf, Hrsg. Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Studien zur Produktion volkstümlicher Geschichte und Geschichten vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Bern/Stuttgart: P. Haupt, 1988.

[3] Golowin, Sergius. Hausbuch der Schweizer Sagen. Lizenzausgabe für den Buchclub Ex Libris, 1983. Wabern: Büchler Verlag, 1981.

[4] Büchli, Arnold. Schweizer Sagen. Lizenzausgabe für den Buchclub Ex Libris Zürich. Aarau: Sauerländer AG, 1971.

[5] Alfred Cérésole, Légendes des Alpes vaudoises, Nouvelle édition, Lausanne, 1913. Siehe auch : https://ebooks-bnr.com/ebooks/pdf4/ceresole_legendes_des_alpes_vaudoises.pdf Seite 65.

[6] Lienert, Meinrad. Schweizer Helden- und Sagengeschichten. Herstellung: Sauerländer Verlag, Aarau (1969). Bern: Eduard Salchli, Verlag, 1963. Siehe auch: http://www.sagen.at/texte/sagen/schweiz/allgemein/st_jodern_glocke.html