Sagenstark. Feuer in Gordevio

Feuer in Gordevio

Ich hätte es wissen müssen. Nach einer Grippe braucht der Körper Erholungszeit. Das braucht Geduld. Ich unternahm jedoch eine Sommerwanderung, kaum dass das Fieber weg war, vom Val Verzasca ins Valle Maggia. Viel zu spät brach ich in Lavertezzo auf. Die Luft glühte, und beim Aufstieg nahm mir die Schwüle den Atem. Mein Rucksack kam mir tonnenschwer vor, Schweisstropfen brannten in den Augen.
Je höher ich gelangte, umso unerbittlicher stach die Sonne. Bis der höchste Punkt, die Bocchetta d’Orgnana, in Sichtweite kam, war längst Nachmittag. Ich trank die letzten Tropfen aus der Wasserflasche.

Bei der Lücke stolperte ich und verletzte mich, sodass ich eine Pause einlegen musste. Ich hatte mich verschätzt. Die Muskeln hatten die Spannung verloren, die Fersen schmerzten. Die Grippe hatte mich viel stärker geschwächt, als ich angenommen hatte.
Unter mir gähnte der lange Abstieg, mehr als 1600 Höhenmeter. Wenn ich Glück hatte, würde ich weiter unten auf einen Bach treffen. Oder auf Schatten.
Ich musste weiter.
Zwei Stunden lang wankte ich bergab, hatte immer dieselben Gedanken im Kopf, als würden sie den Ausgang nicht finden, und der Talgrund bei Gordevio kam kaum näher.

Plötzlich gaben meine Beine nach. Ich knickte ein und fiel erschöpft zu Boden. Meine Kraft war aufgebraucht, und ich blieb schwer atmend liegen. Rund um mich herum ragten verdorrte Grashalme in den Himmel. Meine Glieder fühlten sich taub an.
Nach einiger Zeit wurde mir klar, wo ich lag. Vor Jahren hatte hier ein grossflächiges Feuer den Wald verwüstet. Neue Büsche wuchsen nach, Gras bedeckte den Boden, und darin standen meterdicke, verkohlte Baumstümpfe von uralten Kastanienbäumen. Tausendjährig sahen sie aus. Das Feuer hatte ihre Äste vollständig verbrannt.
Wie unheimlich still es auf der steilen Wiese war! Kein Glockengeläut, kein Vogelpfiff, kein Insektensummen, keine zischenden Vipern. Ich war allein.

Als es dunkel wurde, fuhr ich hoch. Brandgeruch! Rauch und verbranntes Fleisch! Schnell sprang ich auf die Beine. Hinter mir auf dem Pfad stand ein brennender Mann. Sein Kopf war kaum mehr als der knöcherne Schädel, sein Körper bestand aus dem nackten Gerippe. Er brannte lichterloh. Eine furchtbare Hitze ging von ihm aus, die Flammen schlugen meterhoch über seinen Kopf. Tausend kleine Fünkchen wurden in die Luft gespien und vom Wind in die trockene Wiese getragen.

Der Brandstifter! durchfuhr es mich. Der Brandstifter, der seine Ruhe nicht findet. Ich wich vor der Hitze zurück und hielt meine Hand schützend vor das Gesicht. Er trat näher, die Flammen fauchten, es knisterte und knackte und prasselte.
«Gib mir Wasser!», sagte der Brennende und streckte die Hand nach dem Rucksack aus.
Da man einem Büssenden keine Bitte abschlagen darf, reichte ich ihm den Rucksack. Doch sobald seine glühende Hand diesen berührte, fing er Feuer. Ich schrie entsetzt auf und sprang zurück. Dann lief ich los, so schnell ich konnte, weg von dem Mann, der mir folgte. Ich rannte, sprang über Felsbrocken, schneller als ich je gelaufen war.
Endlich erreichte ich das Kirchlein von Gordevio, wo ich beide Hände ins Weihwasser-Becken tauchte.
Es zischte.

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