Am 11. September 1940 begann der Tag in Meitschligen (UR) mit blauem Himmel, als plötzlich dicker Nebel aufzog, was einigen Bauern und auch dem Mittelschüler Josef Brücker merkwürdig auffiel, denn eigentlich hatte das Radio gutes Wetter vorhergesagt. Der mysteriöse Nebel hätte im dicht besiedelten Mittelland zu Beginn des Kriegs vielleicht zu einer Massenpanik geführt. Nicht so im Kanton Uri, stellt Simon Gisler in seiner Lizentiatsarbeit «Rinderwahn im Reduit» fest.
Giftige Nebelpatronen
Im Sommer und Herbst 1940 führte die Nebelkompanie der Schweizer Armee mehrere Übungen mit Nebelpatronen durch, denen Perchlornaphtalin beigemischt war. Das Gift schien für Mensch und Tier unbedenklich. Die Übungen dienten der Vorbereitung für einen allfälligen Krieg mit chemischen Waffen.
Peter Hug weist in einer Studie von 1997 nach, dass Bundesrat Rudolf Minger im Jahr 1937 die Armee beauftragte, ein Programm für die chemische Kriegsführung auszuarbeiten. Teile der Armeeführung gingen nämlich davon aus, dass Hitler im Krieg Chemiewaffen einsetzen würde. Der Gesamtbundesrat wurde über dieses Programm nicht informiert. Fraglich ist, ob er einem solchen Programm überhaupt zugestimmt hätte, denn die Schweiz hatte 1932 ein Protokoll des Völkerbundes ratifiziert, in dem der Einsatz von giftigen Gasen als Waffe verboten waren.
Grümpelware
Nach den Nebelübungen hatte der Urner Kantonstierarzt Anton Stocker alle Hände voll zu tun. Auf den Bauernhöfen, in deren Nähe Nebelübungen durchgeführt worden waren, starben Kühe und Ziegen oder sie mussten notgeschlachtet werden, weil sie keine Milch mehr gaben. In den wirtschaftlichen Ruin getrieben, nahm sich der eine oder andere Bauer das Leben. Das EMD schwieg. Rudolf Minger trat im Dezember 1940 als Bundesrat zurück. Auf Wikipedia werden private Gründe für diesen Rücktritt angegeben. 1946 bekam Minger den Ehrendoktortitel der Universität Bern, weil er sich für einen gesunden Bauernstand eingesetzt hatte.
Zwei Jahre nach den Vernebelungsübungen – als das EMD längst hatte zugeben müssen, dass das mysteriöse Viehsterben in Zusammenhang mit den Vernebelungsübungen stand – bezeichnet der Kantonstierarzt das Jungvieh eines Bauern immer noch als «Grümpelware». Neu gekaufte, gesunde Kälber, die vom Urner Heu und Gras frassen, erkrankten auch nach zwei Jahren noch. Das wasserunlösliche Gift hatte sich am Boden festgesetzt und verseuchte Gras und Heu für Jahre. Die Viehwirtschaft im Kanton Uri, vor dem Krieg eine der wichtigsten Einnahmequellen, war zerstört. Welche Folgen das Perchlornaphtalin für Menschen hatte, wurde damals nicht untersucht, Zahlen für Krankheitsfälle (wie Hautausschläge oder Blinddarm) nicht erhoben.
Innerhalb von fünf Jahren leistete die Armee Schadenersatzzahlungen für 14000 Kühe allein im Urnerland. Teilweise übernahm sie das verseuchte Vieh. Es gelangte nach Brugg, wo es im Auftrag der Armee geschlachtet wurde. Gemäss Simon Gisler wurde es als Frischfleisch verkauft – in Kriegszeiten ein seltener Leckerbissen! – oder es wurde zu Büchsenfleisch weiterverarbeitet. Gut möglich also, dass einige unserer Grossväter und -mütter von diesem Fleisch gegessen haben.
Auch das verseuchte Heu kaufte die Armee ab und verfütterte es den eigenen Pferden, die im Gegensatz zu den Kühen keine Vergiftungserscheinungen zeigten.
Auf die Geschichte der Nebelkühe stiessen wir in einem Bericht der NZZ vom 9. November 2015: «Der vernebelte Giftgas-Skandal». Wer sich für das Thema interessiert, dem seien die folgenden Lektüren empfohlen:
Gisler, Simon (2004): Rinderwahn im Reduit. Lizentiatsarbeit an der Uni Basel.
Hug, Peter (1997): Biologische und chemische Waffen in der Schweiz zwischen Aussen-, Wissenschafts- und Militärpolitik, Studien und Quellen 23.
5. August 2016
Siehe dazu unsere Sage: «Die Nebelkühe von Uri»