Meidpass Sagenstark

Der Kentaur vom Meidpass

Von St. Niklaus fährt eine kleine Gondel hinauf nach Jungen, von wo aus ein Weg über den Augstbordpass ins Turtmanntal führt. Die Gondel schwankte in schwindelerregender Höhe. In ihr sassen ein deutsches Ehepaar, das sich in bewundernden Ausrufen über die Viertausender erging, und Rolf Schnell. Er war blind und taub für die Schönheit der Natur. Tags zuvor war er beim Verwaltungsrat mit seinen Vorschlägen zur Sanierung der Firma abgeblitzt. Am Montag würde er Kurzarbeit einführen müssen. Da hatte er entschlossen, übers Wochenende in die Berge zu fahren, um sich körperlich auszukotzen. Er war früher einmal Marathon gerannt, und obwohl er seit Monaten keinen Sport trieb, hatte er sich in den Kopf gesetzt, die offizielle Wanderzeit nach Gruben um zwei Stunden zu unterbieten. Kaum hatte er festen Boden unter den Füssen, eilte er los, ohne auf seine Umgebung zu achten. Auf einem Felsvorsprung stand ein Steinbock und beobachtete ihn feindselig. Etwas weiter entfernt graste eine Herde Steingeissen und ihre Jungen.

Kurz vor dem Augstbordpass legte Rolf Schnell eine Pause ein. Ihm war abwechselnd heiss und kalt, Schweiss perlte von seiner Stirn und er überlegte, ob es sich so anfühlte, wenn man einen Herzinfarkt bekam. Glücklicherweise wurde er durch das Geräusch von Schritten von dem Gedanken abgelenkt. Eine junge Frau in Shorts mit braun gebrannten Beinen überholte ihn. Sie sprang leichtfüssig über die Steine. Rolf Schnell versuchte sich an ihre Fersen zu heften, aber das war unmöglich.

Als er eine Viertelstunde nach ihr atemlos die Passhöhe erreichte, sonnte sie sich auf einem flachen Felsen. Sie sah ihn an. Ihre Augen schimmerten goldgelb. Verwirrt machte Rolf Schnell sich an den Abstieg. Im Hotel in Gruben sass er im Esssaal bei einem Bier und spähte zur Tür hinüber. Er hoffte, sie würde eintreten. Ihr Blick hatte ihn so verhext, dass er an nichts anderes denken konnte. Auch die Tatsache, dass er den Weg in sensationell kurzer Zeit zurückgelegt hatte, bedeutete ihm nichts.

Am nächsten Tag ging er durch den Wald steil hinauf nach Meide, wo er sich, untypisch für sein Naturell, träumerisch in eine Weide legte. Wenn er die Augen schloss, sah er die Frau, wie sie auf dem Felsen sass. Beim Weiterwandern fielen ihm zum ersten Mal Steingeissen auf. Eine von ihnen stand abseits der Herde und musterte ihn. Dieselbe Verwirrtheit wie tags zuvor auf dem Augstbordpass bemächtigte sich seiner.

Als er auf dem Meidpass neuerlich rastete, spürte er plötzlich ihre Nähe. Sie kam zwischen den Felsen hervor und leckte das Salz von seinen Händen. Da ging eine Verwandlung in ihm vor. Vom Rumpf her abwärts bog und streckte sich sein Körper und wuchs zu einem gedrungenen Steinbock-Leib mit kräftigen Beinen und Hufen heran. Seine Brust weitete sich und auf seinem Kopf sprossen zwei mächtige Hörner.

Hinter ihr kletterte er in den Felsen höher und höher. Mit jedem Sprung nahm seine Angst vor der Höhe ab. Als sie den Meidspitz erreichten, war er überwältigt und pries sein Glück. Doch lange sollte es nicht währen. Bei Sonnenuntergang verliess sie ihn, um zur Herde beim Meidsee zurückzukehren. Wenn er sie für sich haben wollte, würde er im Winter seine Konkurrenten ausstechen müssen. Am Montagmorgen erschien er nicht im Büro. Er war verschollen.

Bis tief in den Herbst hinein beobachteten Jäger auf dem Meidpass ein eigenartiges Wesen. Sie konnten nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen Menschen oder einen Steinbock handelte. Jedenfalls wagten sie es nicht, es zu schiessen. Im Januar schliesslich, als die ersten Sonnenstrahlen die Felle der Tiere wärmten, kämpften zwei prächtige Böcke gegeneinander und das Klacken der Hörner hallte weit herum von den Felswänden.

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