Zu Zeiten des Zehngerichtebundes lebte in Küblis der Zimmermann Johann Gaudenz Stocker. Einst war er vor dem Morgengrauen unterwegs nach Conters, als er einen Schrei vernahm. Er eilte zurück zur Brücke über die Landquart. Aus dem verschneiten Flussbett rief ein Mann um Hilfe. Johann Stocker stürzte das steile Bord hinunter und sprang ins Eiswasser, das seinen Leib wie Feuer umfasste.
«Wo bist du?», rief er und watete suchend zwischen den Felsblöcken, bis er den besinnungslosen Mann unter der Brücke entdeckte. Er zerrte ihn aus dem Wasser, hob und stiess ihn das Bord hinauf und trug den Fremden so rasch er konnte ins Dorf zurück.
In der Nacht erschien ihm der Fremde im Traum und sagte: «Ich komme wie du aus Küblis. Wir sind Nachbarn. Aber ich bin arm und kann dir deine Hilfe nicht so entgelten, wie du es verdienst. Ich kann dir jedoch auf eine andere Weise nützlich sein. Warte jeden Morgen, bis ich an deinem Haus vorbeigegangen bin. Dann wirst du Glück haben. Was immer du tust oder was du geschehen lässt, es wird zu deinem Guten sein. Vergiss nie: Verlasse dein Haus erst dann, wenn du mich gesehen hast.»
Drei Jahre lang wartete Johann Stocker jeden Morgen, bis der Fremde an seinem Haus vorübergegangen war. Erst dann ging er seinem Tagwerk nach. Dabei fand er ein gutes Auskommen, blieb gesund und kräftig, besass eine stets gefüllte Vorratskammer, ja, er konnte sich sogar einen zweiten Rock und ein Paar Stiefel kaufen.
Im Sommer des vierten Jahres wurde das Prättigau überfallen von einem Dauerregen, wie ihn noch niemand je erlebt hatte. Es war, als würde die Sintflut zurückkehren. Nach Mitternacht hörte Johann Stocker Rufe vor seinem Haus: «Die Flut kommt! Komm und hilf uns, wir verstärken die Dämme!»
Ein furchtbares Rauschen und Prasseln dröhnte. Johann Stocker zögerte. Der Fremde würde erst im Morgengrauen an seinem Haus vorbeigehen. Sollte er solange warten?
Erneut schlugen Fäuste an seine Tür. «Mach schnell, hilf uns! Die Flut kommt! Die Flut kommt!»
Schliesslich sprang er auf und lief mit Werkzeug und einem Seil zum Fluss, der wütend in seinem zu eng gewordenen Bett polterte. Die Leute aus dem Dorf schafften Möbel und Gerätschaften aus jenen Häusern, die dem Fluss am nächsten waren. Jemand zerrte Ziegen aus einem Stall. Vom oberen Dorfteil her rannten drei Schweine durch das knöcheltiefe Schlammwasser.
Dann zitterte der Boden. Johann Stocker starrte auf eine grässliche, schwarze Wasserwalze. Wilde Angst überkam ihn und er lief um sein Leben. Überall hörte er Schreie von solchen, die das Geröll mitriss.
Er schaffte es bis zur Anhöhe jenseits des Dorfes. Die Sturmglocke war verstummt. Die Landquart hatte das Dorf erobert. Er sah, wie sein eigenes Haus in der Mitte auseinandergerissen und wie das Dach des abgetrennten Teils einem Floss gleich davongetrieben wurde.
Johann Stocker fand bei Leuten aus Saas Unterschlupf. In der nächsten Nacht erschien ihm erneut der Fremde im Traum und sagte: «Nun habe auch ich dich vor dem Ertrinken gerettet. Aber du hast dein Haus verlassen, ohne auf mich gewartet zu haben. Da du dich nicht an die Abmachung gehalten hast, werde ich nicht mehr für dich da sein.»
Von jenem Moment an sah Johann Stocker den Fremden nie wieder.