Sagenstark. Der Garten beim Landesmuseum

Der Garten beim Landesmuseum

Ein Mädchen und ein Junge hatten bis in den frühen Morgen getanzt und warteten nun beim Landesmuseum auf den Zug. Durch ihre Schuhsohlen drang die Januarkälte. Das Mädchen trat in schnellem Rhythmus von einem Fuss auf den nächsten, dabei blickte es auf die nahe Kreuzung. Vereinzelt fuhren Autos vorbei und blendeten es mit den Scheinwerfern. Es mochte diese kurzen Augenblicke der Blindheit.

Der Junge bückte sich. «Eine Brille, schau!» Beim Versuch, sie aus den Ästen eines Busches zu lösen, stach er sich. Mit einem leisen Fluch zog er seine Hand zurück und rieb sich Daumen und Zeigefinger, dann versuchte er es noch einmal. Als er es geschafft hatte, schob er die Brille dem Mädchen vorsichtig auf den Nasenrücken. Das Mädchen schaute den Jungen erwartungsvoll an, dessen schön geschwungene Lippen so nah waren, dass es die Wärme fühlen konnte.

«Passt», sagte er.

Das Mädchen errötete. Es reckte das Gesicht zu ihm empor und schloss dabei die Augen. Als es seine Lippen spürte, wurde es von ihrer Zartheit überrascht. Und dann taumelte es in eine Blindheit, die schwindelerregender war, als alles, was es zuvor gekannt hatte. – Übermütig vom ersten Kuss rannten die beiden später auf den Bahnhof. Der Junge rief: «Wo ist die Brille?»

*

Die Aprilsonne wärmte Kieswege und Grasflächen im Park. Aus den Knospen der Bäume sprossen winzig kleine, hellgrüne Blätter und fächerten im Wind. Eine Frau mit Perret, unter dem die grauen Haare in Wellen hervorquollen, stand beim Schiffssteg des Landesmuseums. Sie hatte sich dort mit einer Jugendfreundin verabredet, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als das Limmatschiff in einem grossen Bogen anlegte, schlug ihr Herz höher.

Die beiden begrüssten einander überschwänglich und während sie durch den Platzspitz schlenderten, waren sie bald in Erinnerungen vertieft. Vor dreissig Jahren hatten sie das Haar mit Henna gefärbt und waren durch den Park gegangen, als beherbergte dieser einen Zirkus für Abnormitäten. Sie hatten die Drogensüchtigen im Rondell mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu beobachtet. Wie sie daran zurückdachten, schämten sie sich für ihr Verhalten.

Plötzlich blieb die Jugendfreundin stehen. In inquisitorischem Ton fragte sie: «Warum hast du dich damals nicht mehr gemeldet und auch meine Anrufe unbeantwortet gelassen?»
«Ich ertrug es nicht, wie du ihn angehimmelt hast. Er hat dich nicht verdient.»
«Wir sind seit einem Jahr geschieden.»
«Ich weiss», sagte die Frau mit Perret.

Sie wandten sich schweigend dem Parkausgang beim Landesmuseum zu. Als sie an einer Hirschskulptur vorbeikamen, lachten sie. Auf dem Maul des Hirsches lag eine Brille. Die Frau mit Perret nahm sie und setzte sie auf.
«Dana», sagte sie zu ihrer Jugendfreundin und nahm dabei allen Mut zusammen, «ich möchte dich küssen. Ich hätte dich damals schon gerne geküsst.»

Sie umarmten sich und während ihre Lippen aufeinander ruhten, nahm jede den Duft der anderen in sich auf. Dabei fiel die Brille unbemerkt neben der Bronzeskulptur ins Gras.

 *

An einem herrlichen Altweibersommer spazierte ein Paar im Schatten der Bäume durch den Park. Das Alter hatte sie gebeugt und ihr Gang war nicht mehr so sicher wie einst. Sie hatten kein bestimmtes Ziel, und nachdem sie ein wenig in das undurchdringliche Grün der Limmat geschaut und auch die jungen Leute auf dem Mäuerchen gemustert hatten, schob die Frau ihre Hand in die des Mannes und zeigte mit der anderen auf eine Bank in der Nähe. «Lass uns ein wenig ausruhen.» Als sie sich gesetzt hatten, nahm sie ein Säckchen aus der Tasche und bot ihm getrocknete Äpfel an. Während er einen Apfelring kaute, gewahrte er eine zusammengeklappte Brille neben sich. Sie war auf ein Tüchlein gebettet. Er putzte die Gläser und setzte sich die Brille auf. Dann wandte er sich an seine Frau.
«Was hältst du davon?»

Das Kinn und die Nasenflügel seiner Frau begannen zu zitterten, bebten immer heftiger, bis sich der Mund krümmte, um sich sogleich in seiner ganzen Breite zu öffnen und einem lauten Gelächter Raum zu schaffen. Wenn sie so wieherte, musste er immer an ein Pferd denken, dass sich losriss und über eine weite Koppel davon galoppierte. Er wartete, bis seine Frau sich von selbst beruhigen würde, aber weil das so gar nicht eintreten wollte, nahm er ihr ungestümes Gesicht zwischen seine Hände und tat etwas, das er schon sehr, sehr lange nicht mehr getan hatte. Seine Frau wurde ganz ruhig und schmiegte ihren Kopf an seine Hände.

Als sie aus dem Park spazierten, sagte die Frau: «Vielleicht sollten wir die Brille aufs Fundbüro bringen.» Der Mann tastete nach seiner Brusttasche, wo er die Brille verstaut hatte, doch da war sie nicht.

Ein Gedanke zu “Der Garten beim Landesmuseum

  1. Ich fühle mich erinnert an alte Zeiten, in denen auch ich nach durchtanzter Nacht in der Gegend auf das Tram wartete… Danke für die schönen Erinnerungen, die schöne Geschichte und die schöne Zeichnung. Maria

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